Wo kommst du her? Bist du in Deutschland geboren? Wurdest du auch schon mal öffentlich gedemütigt, weil du ein „Ausländer“ bist?
Ich kam mit 17 Jahren als bosnischer Kriegsflüchtling hierher, zusammen mit meinen Eltern. Wir wurden bei Verwandten väterlicherseits untergebracht und hatten bereits wenige Tage später eine Arbeitsstelle. Leider waren es nicht meine Lieblingsverwandte, die Hölle auf Erden begann…
Ich arbeitete in einer Bäckerei und man steckte mich nach wenigen Monaten in die dauerhafte Nachtschicht von 02:00 bis 10:00 Uhr morgens. Und ich nahm es hin. Das war mein neues Leben.
Mein Wortschatz beschränkte sich bei der Ankunft auf „Guten Tag“ und „Danke“. In meiner Heimatstadt besuchte ich Gymnasium für Fremdsprachen und lernte Englisch, Französisch und Latein (Letzteres war leider nicht abzuwählen). Deutsch wählte ich ab, weil ich den Klang dieser Sprache nicht mochte, und zog stattdessen Französisch vor. Ironie des Schicksals, ausgerechnet in Deutschland zu landen…
Manche Menschen begegneten uns damals freundlich, andere haben uns bemitleidet, belächelt, gemieden oder bloßgestellt. Aber niemand fragte wie es einem Kriegsflüchtling wirklich ging. Einer 17 Jährigen, die von Jetzt auf Gleich plötzlich fliehen musste, sich nicht mal von ihrem alten Zuhause und der besten Freundin verabschieden konnte. In unserer Heimatstadt waren wir plötzlich nicht mehr willkommen. Hier auch nicht. Wo sollten wir denn hin?!
Ein einschneidendes Erlebnis kurz nach meiner Ankunft in diesem Land hat mich geprägt. Daraufhin habe ich über Jahre Dinge getan, die ich heute bereue. Niemals werde ich den Tag vergessen, als ich nach der Arbeit den Supermarkt um die Ecke betrat, um mir etwas zum Essen zu kaufen. An der Kasse wurde ich sofort als Dieb beschimpft, als ich die Kassiererin mit Akzent begrüßte.
Sie riss mir den Rucksack aus der Hand und leerte seinen kompletten Inhalt wutentbrannt auf das Band. Alle Menschen starrten mich in meiner Hilflosigkeit an, manche schauten weg, aber niemand half. Und ich konnte mir auch selbst nicht helfen, weil ich mich nicht verständigen konnte.
Völlig geschockt und verzweifelt stand ich da, der Situation ausgeliefert. In meinem Rucksack war selbstverständlich nur meine Arbeitskleidung, die ich mit nach Hause nahm zum Waschen… Ich kann mich nicht erinnern eine Entschuldigung gehört zu haben. Oder ich verstand sie nicht. Aber ein Wort erreichte mich noch beim Weglaufen, das die besagte Dame an andere Kunden richtete: „Drecksausländer“.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht einmal was es bedeutete. Aber ich habe es nie vergessen. Nur weil ich diese Dame mit Akzent begrüßte, war ich automatisch ein Dieb? Womit genau verdiente ich diesen Stempel? Mit Einkaufen? Warum bezeichnet man ein junges Mädchen als „Drecksausländer“? Warum bezeichnet man überhaupt jemanden so?!
Heute weiß ich: Einer Mitarbeiterin, die sich so etwas erlaubt, droht eine Anzeige. Fristlose Kündigung. Ich hätte mich wehren können. Ich hätte mich wehren sollen! Aber ich wollte nur noch weg. Ich war 17 Jahre alt. Mit dicken Tränen verließ ich das Geschäft und traf große Entscheidungen.
An genau diesem Tag schwor ich, nie wieder wegen meiner Nationalität ausgegrenzt zu werden. Unter Tränen gab ich mir ein Versprechen: Eines Tages wird niemand mehr merken wo du herkommst! Mehr noch: Ich machte regelrecht ein Geheimnis daraus.
Mit harter Arbeit gelang es mir, bereits 3 Jahre später akzentfrei Deutsch zu sprechen – ganz ohne Sprachkurs. Dabei versuchte ich wirklich, mich anzupassen. Aber bis ich einen Platz im Kurs bekam, war ich schon weiter und lernte lieber alleine zu Hause, als wieder bei „Hallo“ anzufangen. Das ging mir nicht schnell genug.
Also „las“ ich Bücher – ich weiß bis heute nicht was drin stand – nur um die geschriebenen Worte immer wieder vor den Augen zu haben. Ich hörte Radiosendungen die ich ebenso wenig verstand, nur um den Klang der Sprache zu verinnerlichen. Dass ich diese Sprache früher nicht mochte war nicht mehr wichtig. Ich war nun mal hier.
Als die Lebenssituation bei den Verwandten ein halbes Jahr nach unserer Ankunft eskalierte und wir auf der Suche nach einer eigenen Wohnung waren, rief ich potenzielle Vermieter aus Zeitungsanzeigen an. Noch heute kann ich mich an die Stimme einer alten Dame erinnern, die plötzlich ins Telefon brüllte „Ich vermiete aber nicht an Ausländer!“, nachdem ich sie lediglich begrüßte, mich vorstellte und mich nach ihrer Mietwohnung erkundigte. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mich schon gut verständigen, allerdings mit Akzent. Offensichtlich war das für sie genug.
Ich lernte mich durchzuboxen und – leider – auch mein früheres Leben und meine Herkunft komplett abzulehnen. Die wenigsten Menschen um mich wissen heute dass ich keine deutsche Staatsbürgerin bin.
Wenn jemand neugierig war wo der Name Sanja herkam, gab ich zwar die richtige, aber kurze Antwort und wechselte das Thema. So ließ ich sie im Glauben, ich sei hier geboren, „eine von ihnen“ die einfach einen fremden Namen trägt…
Es fällt mir sicher nicht leicht, diese Geschichte zu erzählen und über meine Herkunft zu plaudern. Tatsächlich lerne ich immer noch, dazu zu stehen. Aber aus aktuellem Anlass sollten wir nicht wegschauen, sondern verstehen, dass Rassismus viele Gesichter hat.
Er ist hier, überall, vor unserer Haustür. Und ihn bekommen nicht nur dunkelhäutige Menschen zu spüren. Was rassistische Kommentare gerade bei Kindern und Jugendlichen anrichten, kann man sich gar nicht vorstellen. Sie geben ihnen das Gefühl von Minderwertigkeit. Sie fühlen sich nirgendwo willkommen. Sie gehören nicht dazu. Die Kriegsflüchtlinge schweben zwischen zwei Welten und kommen nicht an.
Wäre mein Leben heute anders verlaufen? Sind manche Menschen toleranter geworden? Ich weiß es nicht. Seit Jahrzehnten bin ich natürlich nicht mehr mit solchen Situationen konfrontiert, weil ich auch nicht mehr als Ausländerin wahrgenommen werde. Aber bin ich deswegen ein anderer Mensch? Bin ich „wertvoller“ und habe mehr Rechte, nur weil ich akzentfrei Deutsch spreche und nicht als Ausländerin „auffliege“?
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich mich genauso reinhängen wie damals, um die Sprache zu lernen und mich zu integrieren. Keine Frage. Aber ich würde meine Herkunft nicht mehr verstecken. Ich würde mich nicht dafür schämen. Ich würde meinen Kindern meine Muttersprache beibringen, denn heute finden sie es tatsächlich schade, dass sie sie nicht sprechen.
Ich würde die Sprache nicht vernachlässigen, weil ich heute Mühe habe, mich flüssig mit meiner Schwester zu unterhalten. Ich würde mein Heimatland öfters besuchen. Ich würde mich wegen einer rassistischen Kassiererin oder Vermieterin nicht verbiegen!
Heute bin ich mein eigener Boss und die Tür meiner Firma ist für Menschen aus aller Welt offen. Das war sie schon immer und wird es auch immer sein. Bei Fantasyroom arbeiten aktuell 6 verschiedene Nationalitäten zusammen. In unserer Näherei arbeiten gelernte, erfahrene Schneider aus Syrien, die eine sehr schwere Zeit hinter sich haben und teilweise ihr halbes Leben auf der Flucht waren.
In unserem Lagerteam arbeitet ein Sonnenschein aus Eritrea/Ostafrika, und ist einer der liebenswertesten Menschen die ich kenne. Von seinen gepackten Paketen verabschiedet er sich mit einem Lächeln und „gute Reise“. Es gibt keinen Tag, an dem er seine Kollegen/innen nicht zum Lachen bringt. Seine Deutschkenntnisse erweitert er in der Mittagspause.
All diese Menschen haben hier einen sicheren Arbeitsplatz und werden nicht anders oder schlechter bezahlt als ihre deutschen Kollegen/innen. Wir nehmen Rücksicht darauf dass es noch sprachliche Barrieren gibt und unterstützen diese fleissigen Menschen, weil ich mich in jeden von ihnen hineinversetzen, ihre Sorgen und Ängste verstehen kann.
Weil Jeder auf diesem Planeten Wünsche, Träume und ein Recht auf ein erfülltes Leben hat, unabhängig von seiner Herkunft. Denn nicht alle Flüchtlinge sind faul, gefährlich, oder leben auf Kosten der Steuerzahler. Nicht alle „Schwarzen“ sind kriminell, nicht alle „Weißen“ sind Mörder und Rassisten und nicht alle Chinesen haben Corona.
Wir sind alle gleich, egal welche Sprache wir sprechen, wie wir aussehen oder welchen Namen wir tragen. Was wir daraus machen, liegt ganz allein an uns selbst.
Meinen Mann lernte ich übrigens 4 Jahre nach meiner Ankunft in Deutschland kennen und lieben. Bereits ein Jahr später haben wir geheiratet. Heute ist unser Sohn schon erwachsen, die Tochter 17 Jahre alt, wir managen Fantasyroom mit Liebe und Leidenschaft und sind stolz darauf, dass mittlerweile 40 Menschen aus aller Welt zu unserem Team gehören!